Ich bin groß, nicht krank.



"Hast du sehr unter deiner Größe gelitten?"
Als mir diese Frage vor ein paar Wochen gestellt wurde, ist mir alles aus dem Gesicht gefallen, als ich den Grund dafür erfahren habe. Im entfernteren Dunstkreis gibt es ein Mädchen, gerade 13, bei dem in Erwägung gezogen wurde, sie für Jahre auf eine Hormontherapie zu setzen, damit sie vielleicht ein paar Zentimeter weniger in die Höhe geht. Ihre Prognose liegt bei deutlich über 1,80m an die 1,90m, derzeit ist sie 1,73m.
Noch immer bin ich etwas fassungslos, wenn ich daran denke.
Ja, 1,90m ist wirklich groß, zumal für eine Frau. Aber rechtfertigt das solche massiven Eingriffe in ihren Körper? Denn nach meinem Verständnis ist eine Hormontherapie genau das.
Jana von bekleidet.net hat vorgestern einen Post dazu geschrieben "Wie es ist als dürre Bohnenstange aufzuwachsen" und da war das Thema sofort wieder präsent.
Jana ist 1,77m, ich bin 1,79m groß. Vieles, was sie erzählt, kann ich so unterschreiben. Die dummen Sprüche wie "Spielst du Basketball?" oder netter "Du könntest doch modeln!" fast im gleichen Atemzug mit: "Du bist aber nicht magersüchtig?!"
Lebhaft in Erinnerung ist mir auch noch der Kommentar des Vaters einer Freundin (selbst ein sehr großer, sehr schlanker Mann), der mich wohl aufmuntern wollte, indem er meinte: "Ich kenne das mit dem schnellen Wachsen. Man läuft wie ein Gorilla!" Zu meinem Unglück hatte er Recht. Es braucht eine Zeit, bis man die neuen Längen koordiniert bekommt. Nummer eins dummer Spruch kam aber von meiner Oma: "Werd' nicht so groß, sonst bekommst du keinen Mann!" gepaart mit der Empfehlung mir ein Buch auf den Kopf zu legen, damit ich aufhöre zu wachsen. Und besser nicht in den Mairegen stellen. Ähm, ja...
Wenn man mit 14 dann schon 1,77m groß ist und damit größer als alle im Jahrgang (auch als die Jungs), dann überlegt man, ob Oma Recht haben könnte. Wenn man Ende der Oberstufe immer noch keinen festen Freund hatte, dann frisst sich dieser Satz ins Unterbewusstsein und nagt dort im Stillen am Selbstwert.
Ich habe ungelogen eine Zeitlang überlegt, ob ich nicht auf so eine grauenvolle OP sparen soll, bei der einem aus Ober- und/oder Unterschenkel Knochen rausgesägt wird, damit man nachher kleiner ist. Offenbar hatte ich noch ein bisschen Hirn und noch mehr Respekt vor den zu erwartenden Schmerzen, dass ich das dann doch wieder verworfen habe.

Also, um auf die Anfangsfrage zu antworten: Ja, verdammt, ich habe echt unter meiner Größe gelitten. Sehr sogar. Dass ich dabei auch noch so dünne war, war mir relativ recht, dadurch habe ich wenigsten weniger Raum eingenommen. Denn was man mir auch schon recht früh mitgegeben hatte, war: Du bist groß, du bist clever (Teenager messen Intelligenz an Schulnoten...), du bist schlagfertig, das schreckt ab. Jungs wollen ein Mädchen beschützen.Also sieh zu, dass du nicht wie eine Walküre auftritts.
Klein machen konnte ich mich nicht (dass krumm stehen und gehen mich nicht attraktiver macht, habe ich recht schnell gelernt), dünne war ich ja schon immer und naja, an einer kleinen Schule weiß sowieso jeder, wer im Jahrgangsranking auf den Streberplätzen logiert. Dennoch ein beängstigendes Gefühl, dass es sein konnte, dass gerade das, was so sehr ich war, dass das vielleicht Jungs davon abhielt, mich mehr als nur zu mögen. Denn mögen war nie ein Problem.

Mit dem Studium und dem Verlassen der Provinz begegneten mir dann aber auf einmal viel mehr große Menschen in meinem Alter. Männer undFrauen. Tatsächlich gehört das mit zu den klarsten Erinnerungen an mein erstes Semester: wie ich auf dem Bahnsteig stehe, die Menschen beobachte und total fasziniert bin, dass ich nicht die größte Frau bin. Hat Dortmund mehr große Menschen zu bieten als ein nordhessisches Kleinstädtchen, dass sich im Ruhgebiet wohl noch nicht mal "Dorf" nennen dürfte? Wahrscheinlicher ist, dass ich generell einfach sehr viel mehr Menschen zu Gesicht bekommen habe und das genügte schon, um alles wieder zu relativieren. Das und das bessere Angebot an Klamottenläden mit Hosen in Länge 34 und 36.
Und mit all den vielen Menschen wurde die Größe immer mehr zum Vorteil. Ich muss nicht in der U-Bahn, wenn es überfüllt ist und es nur noch Stehplätze gibt, in die Achselhöhle eines Fremden atmen. Ich kann sehen, was zwei, vier, 20 Meter vor mir passiert. Ich werde gesehen und nicht überrannt.

Und siehe da, ich hab einen abgekriegt. Ganz ohne Buch auf den Kopf legen.

Diese verquere Idee, dass Frau aber nicht größer sein darf oder sollte, hatte es sich aber schon recht bequem in meinem angefressenem Unterbewusstsein gemacht und wollte lange nicht ausziehen. Mein Mann ist sieben Zentimeter größer als ich, wirkt aber kleiner als ich, weil ich sehr aufrecht gehe und nur aus Hals bestehe, wohingegen er seine Größe aus den Beinen holt, sodass er im Sitzen tatsächlich deutlich kleiner ist als ich. Wehe wenn mal jemand sagte "Aber Benny ist doch auch kleiner als du!"
"Ist er gar nicht!" Wie ein trotziges Gör.
Ja, aber selbst wenn?
Es ist  zwiegespalten. Denn einerseits ist es mein eigenes Ideal, dass Frau etwa einen Kopf kleiner ist als Mann. Einfach so, das ist so ein Bild in meinem Kopf, das empfinde ich als richtig. Aber woher kommt das denn? Und was bedeutet das?
Sind wir da nicht im selben Segment wie dem, das Frau doch bitte schlanker zu sein hat als Mann? Schwächer? Zerbrechlicher allgemein? Arzt und Krankenschwester, Chef und Sekretärin?
Ich musste weit über zwanzig werden, um nicht nur verstehen sondern auch wirklich fühlen zu können, wie falsch diese Vorstellung ist. Was sie mit Frauen macht. Wie sie sie abwertet. Und wie sie umgekehrt - denn dieser Blickwinkel wird ja zu gern vergessen - Männern suggeriert, sie müssten immer der Fels in der Brandung sein, immer stark, immer kraftvoll. Eine Frau, die in den Armen des Mannes schluchzt und getröstet wird, das ist okay. Sie hat ihren Helden, er wird es schon richten. Aber umgekehrt? Mannweib. Waschlappen. Ist grad noch so okay, wenn der starke Mann einen schweren Schicksalsschlag erleidet, dann darf man den gebrochenen Helden retten. Noch so ein Frauending. "Keiner versteht ihn, nur ich. Ich rette ihn!" Oh Gott, ich schweife ab...
Aber was soll das? Ob blau oder rosa, das ist mir völlig egal. Genauso ob gestrickt oder Holz gehackt wird, jeder, wie er oder sie will. Aber bedenkt, was die Geschlechterspezifizierung wirklich tut. Was der Unterschied von Puppen und von Werkzeugen ist. Welche Richtung das Spiel mit Waffen und das Spiel mit Schminke weist.

Starker Frauen, starker Mann. Mama, ich und mein Stiefpapa. Mein Papa ist aber auch genauso groß.

Und da ist also dieses Mädchen im Bekanntenkreis, das nun unter ihrer Größe leidet. Wie ich damals. Das ich so gut verstehe in ihrem Wunsch nicht größer zu werden. Nicht mehr aufzufallen.
Aber Pubertät ist so. Jeder Unterschied ist ein potentieller Angriffspunkt, wie Jana schreibt: Es gibt kein höheres Ziel als ein perfektes Abbild der Herde zu sein. Aber Größe ist keine Krankheit. Ja, die Kleiderwahl wird irgendwann etwas schwieriger. Aber das Argument gilt auch für besonders kurze Beine, für besonders auffällige Oberweiten oder dergleichen. Und im Zeitalter des Internets ist das wirklich kein Drama mehr.
Das einzige, was stehen bleibt, ist tatsächlich das Argument der Partnerwahl. Große Frau mit kleinem Mann ist gesellschaftlich nicht akzeptiert, es wird immer kritisch beäugt. Wie erwähnt, kann auch ich mich nicht davon frei machen darüber zu stutzen. Es ist drin, ich bin so konditioniert und muss mich geistig daran erinnern, dass es dummes Zeug ist.

Am Ende des Tages zählt aber doch das: dass der Mann, mit dem ich zusammen bin, mich liebt wie ich bin. Groß, als große Frau, klein, als kleine. Dieses Gefühl jemanden beschützen zu können, mag eine gewisse Attraktivität haben, in einer romantisierten Vorstellung von Heldentum und der Zerbrechlichkeit von Schönheit. Aber im Alltag, da wünsche ich mir doch einen Partner, der mich aufrichtet, der mich stärkt, an dem ich wachse. Und das möchte ich auch für ihn sein. Wer möchte allen Ernstes jemanden, der ihn bzw. sie kleinhält? Und ein Mann, der mich nicht will, weil ich zu präsent bin, zu stark vielleicht, der ist mir dann, tut mir Leid, einfach nicht gewachsen.

Ihr seht, es ist nicht die Größe allein. Es geht um Stärke, darum für sich selbst zu stehen und kein Anhängsel zu sein. Denn das ist Liebe. Für mich selbst und den Menschen an meiner Seite neben mir. Auf Augenhöhe.

P.S.: Als ich bei Nessa zu Besuch war und wir drei Mädels (mit der blonden Sabrina) wandern waren, wurden wir von einer großen Gruppe Chinesen nähe Neuschwanstein um ein Foto gebeten. Auslöser war, dass ich Sabrinas und Nessas Zöpfe fotografiert hatte.
Erst war ich irrtiert, dass ich auch mit auf die Fotos sollte. Denn meine Haare, naja... so im Vergleich...  Erst als wir schon posiert haben, habe ich erkannt, was wahrscheinlich für die chinesischen Touristen  zu sehen war: Nicht das tauseildicke Haar und der überirdisch seidige Blondzopf zusammen mit dem Rattenschwanzzöpfchen, sondern das Tauseil, die blonde Seide und die irre große Frau. Ich war ja mehr als einen Kopf größer als sie. Ich habe sehr breit auf den Fotos gelächelt. Schade, dass ich keines habe.



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